Auf dem Weg zu 100-Prozent-Schulen

Zeitschrift

Eine neue Strategie zur Förderung der Basiskompetenzen

Trotz aller Gegenmaßnahmen beherrschen immer weniger Schüler:innen grundlegende Kulturkompetenzen wie Lesen, Schreiben und Rechnen. Soll sich an diesem Abwärtstrend etwas ändern, sind ganz neue Strategien erforderlich. Der hier vorgestellte Ansatz von 100-Prozent-Schulen stellt das einzige Ziel in den Mittelpunkt, das gesellschaftlich akzeptabel ist: Praktisch alle Schüler:innen müssen am Ende ihrer Schulzeit die Basiskompetenzen beherrschen.

Schon heute gibt es Schulen, denen dies auch unter schwierigen Bedingungen gelingt. Aus der Forschung ist bekannt, wie benachteiligte Schüler:innen wirksam gefördert werden können und wie sich effektive Maßnahmen entwickeln, implementieren und in der Fläche verbreiten lassen. Dies ermöglicht eine langfristig angelegte, ambitionierte Initiative für Bildungsinnovation.

Wie viele Kinder sollten am Ende ihrer Schulzeit wirklich gut lesen, schreiben und rechnen können? Auf diese Frage kann es nur eine Antwort geben: Alle. Wie viele Kinder dürfen nach neun Jahren Unterricht die Schule verlassen, ohne lesen, schreiben und rechnen zu können? Auch hier ist die Antwort klar: Keines. Die Sache ist eindeutig: Wenn es um die Vermittlung grundlegender Kulturfähigkeiten geht, müssten alle Schulen 100-Prozent-Schulen sein.

Doch die Realität sieht anders aus. Die aktuelle Studie des Instituts zur Qualitätsentwicklung im Bildungswesen stellt fest, dass in Nordrhein-Westfalen rund 47 Prozent aller Kinder am Ende der Grundschulzeit die Regelstandards in Lesen verfehlen. In Mathematik sind es sogar rund 53 Prozent. Mehr als jedes fünfte Kind erreicht nicht einmal die Mindeststandards in Lesen, in Mathematik ist es nahezu ein Drittel. Diese Werte liegen deutlich unter dem nationalen Durchschnitt, zudem ist seit etwa 10 Jahren ein stabiler Abwärtstrend festzustellen.

Dabei wurde auch in NRW seit der ersten PISA-Studie viel unternommen, um die Probleme der Schulen zu lösen und ihre Leistungsfähigkeit zu erhöhen. Zudem stiegen die Ausgaben für Bildung, wenn auch auf vergleichsweise niedrigem Niveau, in den vergangenen Jahrzehnten kontinuierlich an. Doch keine der Maßnahmen hat wirklich gegriffen und die gewünschte Wirkung blieb aus.

Dieser Umstand deutet auf ein massives Innovationsproblem hin: Wenn die herkömmlichen Maßnahmen 20 Jahre lang keine ausreichende Wirkung entfaltet haben, ist nicht einzusehen, warum sich dies in Zukunft ändern sollte. Eine weitere Erhöhung des Bildungsetats wird daher ebenso wenig eine Trendwende herbeiführen, wie neue Lehr- und Masterpläne für Grundschulen, die Einstellung von mehr Lehrkräften oder die Durchführung immer neuer Schulentwicklungsprojekte. Initiativen wie diese werden vermutlich nicht einmal ausreichen, um den Abwärtstrend der letzten Jahre aufzuhalten.

Der erste Schritt heraus aus der Sackgasse besteht in dem Eingeständnis, dass die Zeit für kleine Schritte und punktuelle Reparaturmaßnahmen mit dem herkömmlichen Instrumentarium vorbei ist. Die erforderliche massive Steigerung schulischer Leistungen kann nur mit einem echten und fundamentalen Strategiewechsel herbeigeführt werden.

100-Prozent-Schulen als neue Strategie der Schulentwicklung

Ausgestattet mit diesem Wissen ist eine neuartige Initiative für Basiskompetenzen möglich, die auf das einzige Ziel setzt, das gesellschaftlich überhaupt sinnvoll und vertretbar ist: Dass praktisch alle Kinder und Jugendlichen am Ende ihrer Schulzeit gut lesen, schreiben und rechnen können.

Sie beruht auf drei zentralen Bausteinen: (1) Einer klaren Problemorientierung verbunden mit ambitionierten Zielen, (2) einer Kombination erfolgreicher Maßnahmen zur Erreichung der Ziele sowie (3) dem Aufbau von Strukturen, die langfristige Lern-, Entwicklungs- und Wachstumsprozesse ermöglichen.

1. Klare Problemorientierung und ambitionierte Ziele

Wer mit der wirksamen Förderung von Basiskompetenzen Ernst machen will, muss dem Thema echte Priorität einräumen. Statt allgemeinen Maßnahmen zur Qualitätsentwicklung von Schulen ist eine Fokussierung auf die erfolgreiche Vermittlung von Basiskompetenzen ein unerlässlicher erster Schritt. Weil die Grundlagen für schulischen Erfolg in den ersten Jahren gelegt werden, muss die Initiative in Grundschulen starten, die den Auftrag erhalten, wirklich allen Kindern die Basiskompetenzen zu vermitteln. Sie sollten „100-Prozent-Schulen“ heißen. Das heißt, dass praktisch alle ihre Schüler:innen die Regelstandards in Lesen, Schreiben und Rechnen zuverlässig erreichen müssen.

2. Kombination erfolgreicher Maßnahme

Die wirksame Förderung von Basiskompetenzen ist eine komplexe Herausforderung, für die es keine einfache, „minimalinvasive“ Lösung gibt. Die Umsetzung in den Schulen sollte deshalb zunächst auf eine Kombination verschiedener Maßnahmen setzen, die sich bereits in der Praxis bewährt haben:- Die neuen Prioritäten müssen sich in der Stundentafel niederschlagen. Ein Programm wie Success for All sieht für die Vermittlung von Lesen und Schreiben 90 Minuten Zeit vor – jeden Tag.

  • Wirksame Förderung beruht auf einer gründlichen Diagnose des Lernstands der Kinder. Die Lehrkräfte müssen leicht zu bedienende Diagnoseinstrumente erhalten und lernen, sie regelmäßig anzuwenden.
  • Der Unterricht muss zielgenau an den so ermittelten individuellen Lernstand anknüpfen. Dafür ist die Bereitstellung von maßgeschneidertem Lernmaterial ebenso erforderlich, wie eine dauerhafte Schulung und Begleitung der Lehrkräfte.
  • Weil auch der beste Unterricht niemals den Erfolg aller Kinder gewährleisten kann, muss ein zusätzliches Sicherheitsnetz geschaffen werden. Tutoring im Sinne von qualitativ hochwertiger, individueller Förderung in Kleingruppen hat sich hierfür als besonders wirksam erwiesen.
  • Die Schulen müssen auch alle sonstigen Barrieren erkennen und abbauen können, die Lernerfolg gefährden. Hierzu zählen etwa gesundheitliche Probleme oder Absentismus. Für diese Aufgabe ist die Unterstützung durch Sozialarbeiter:innen und Psycholog:innen erforderlich.
3. Ermöglichung eines langfristigen Lern- und Wachstumsprozesses

Die Erfahrung zeigt, dass sich mit der schrittweisen Umsetzung dieser Maßnahmen schnell große Fortschritte erzielen lassen. Doch wir wissen ebenfalls, dass sie den Schulen nicht einfach von oben übergestülpt werden können. Die Entwicklung neuer pädagogischer und organisationaler Routinen ist ein anspruchsvoller Lernprozess, der ohne aufwändige und dauerhafte Begleitung nicht gelingt. Zudem reichen die vorhandenen Instrumente alleine auch nicht aus, um das Ziel von 100-Prozent-Schulen an allen Standorten zuverlässig und dauerhaft zu erreichen. Aus diesen Gründen gilt es, einen langfristigen Lern- und Entwicklungsprozess in Gang zu setzen, der im angelsächsischen Raum als „continuous improvement“ bezeichnet wird.100-Prozent-Schulen dürfen deshalb keine isolierten Einzelschulen mehr sein. Sie wären in kleinen Schulverbünden organisiert, deren gemeinsamer Lernprozess von einer Koordinationsstelle unterstützt wird. Diese Stelle würde auch die Beiträge von Partnern aus Wissenschaft, Wirtschaft und Zivilgesellschaft für die gemeinsame Mission mobilisieren. Hochschulen würden internationale Erkenntnisse über weitere wirksame Lösungsansätze wie z.B. die japanische „Lesson Study“ einbringen. Digitale Bildungsunternehmen könnten Angebote zur Diagnose und Förderung von Basiskompetenzen entwickeln. Sie würden durch Initiativen der Zivilgesellschaft wie etwa Lesepaten-Programme ergänzt.

Ein Konsortium für 100-Prozent-Schulen

Träger einer solchen Initiative könnte ein Konsortium sein, das vom Land NRW gemeinsam mit Partnern aus Zivilgesellschaft, Wirtschaft und Wissenschaft aufgebaut wird. So entstünde eine Koalition der Willigen, welche die für Innovation unverzichtbaren Freiräume, das Personal und die Finanzierung bereitstellen – und zwar nicht nur für eine begrenzte Projektphase, sondern dauerhaft.

Im ersten Schritt würde das Konsortium Orte schaffen, an denen die hohen Ambitionen der Initiative tatsächlich eingelöst werden. Kleine Netzwerke aus 3 bis 5 Schulen bilden ihren Nukleus. Sie würden die oben genannten Maßnahmen Schritt für Schritt in einem mehrjährigen Prozess umsetzen und dabei von der Koordinationsstelle eng begleitet und unterstützt werden.

Ziel wäre es, möglichst schnell ganz konkrete Verbesserungen der Schul- und Unterrichtsqualität zu erreichen und so Erfolgserlebnisse und deutlich erkennbare Vorteile für alle Beteiligten zu schaffen. Sobald sich die gewünschten Ergebnisse einstellen, würden die Schulverbünde neue Mitglieder aufnehmen und diese eng bei ihrem Transformationsprozess begleiten. So könnten lebendige Netzwerke aus 100-Prozent-Schulen entstehen, die zu Keimzellen für weitaus leistungsfähigere Schulen der Zukunft werden.
Fazit

Wenn sich nichts an den Methoden ändert, mit denen die Leistungsfähigkeit der Schulen gesteigert und Basiskompetenzen vermittelt werden sollen, ändert sich auch nicht an den Ergebnissen. Beschränken sich Schulpolitik und -praxis in Nordrhein-Westfalen wie bisher auf kleinschrittige Veränderungen mit dem herkömmlichen Instrumentarium ist das Risiko groß, dass auch in weiteren 20 Jahren die Hälfte der Kinder die Schule verlässt, ohne grundlegende Kulturtechniken zuverlässig zu beherrschen.

Zu dauerhafter Stagnation gibt es jedoch eine machbare Alternative. Der Ansatz von 100-Prozent-Schulen verfolgt das ambitionierte Ziel, die Grenzen des Möglichen langfristig neu zu definieren. Dennoch benötigen die vorgeschlagenen Maßnahmen keinen jahrelangen Vorlauf und auch Ergebnisse sind nicht erst in ferner Zukunft zu erwarten. Weil wichtige Bausteine für 100-Prozent-Schulen bereits vorhanden sind, wären der Start eines solchen Programms und die Umsetzung erster Vorhaben noch im laufenden Jahr möglich. Positive Wirkungen sollten bereits 2024 eintreten.

Dabei gilt es, realistisch zu sein: Der Weg zu einem wirklich flächendeckenden Aufbau von echten 100-Prozent-Schulen ist kein leichter und Abkürzungen gibt es nicht. Solche Schulen entstehen gewiss nicht über Nacht. Dafür sind geduldige Anstrengungen über Jahrzehnte hinweg erforderlich. Doch dieser Ansatz eröffnet eine echte Chance für die Entwicklung der leistungsfähigen und gerechten Schulen für das 21. Jahrhundert. Und die Weichen dafür können wir heute schon stellen.